„Wilhelm-Wundt-Haus Grimma, Erinnerungsort der Psychologie oder ausgestellte Wissenschaftsgeschichte?“
Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Medizinhistorische Visite“ an der Berliner Charité lud das Institut für Geschichte der Medizin zu einer Tagung nach Berlin ein. An dem Kolloquium nahmen Wissenschaftler*innen und Studierende aus den Bereichen Psychologie und Medizingeschichte teil. Das zentrale Ziel der Zusammenkunft bestand darin, für die letzte Wohnstätte von Wilhelm Wundt in Großbothen, Ortsteil von Grimma (bei Leipzig), die gerade restauriert wird, adäquate Nutzungsmöglichkeiten zu diskutieren.
Mit dem dritten Vortrag leitete ANDREAS JÜTTEMANN, der sowohl als Stipendiat am gastgebenden Institut für Geschichte der Medizin tätig ist, als auch den stellvertretenden Vorsitz des Fördervereins Wilhelm-Wundt-Haus innehat, die Diskussion der Nutzungsfragen ein. Jüttemann schilderte zunächst den Zustand des Gebäudes, zeigte aktuelle Fotos, die die vorhandenen Schäden erkennen lassen, und erläuterte die Lage des Objekts in der Leipziger Umgebung. Dann berichtete er über die bereits zur Verfügung stehenden Finanzierungsmittel und den Stand der geplanten Baumaßnahmen. Die architektonische Betreuung des Projekts wurde von der Denkmalschützerin Katharina Ungerer-Heuck aus Freiburg, die mit dem inzwischen verstorbenen Wundtforscher Gustav A. Ungerer verheiratet war, vorbereitet. Den Auftrag zur Durchführung des Bauprojekts haben die Architekten Schmidt & Partner aus Weimar übernommen.
Jüttemann stellte Nutzungsideen vor:
(a) Gründung eines Instituts zur Psychologiegeschichte (zum Beispiel in Analogie zu der brasilianischen Wilhelm-Wundt-Graduiertenschule zur Geschichte und Philosophie der Psychologie);
(b) Errichtung eines psychologiehistorischen Museums für die breite Öffentlichkeit;
(c) Einrichtung eines Wohn- und Arbeitsplatzes für eine/n Stipendiat/en/in.
Als ein derzeit noch bestehender Nachteil für die in Betracht genommenen Nutzungen ist die Tatsache anzusehen, dass der Grimmaer Ortsteil Großbothen, in dem sich das Wundthaus befindet, erst 2025 an das Leipziger S-Bahnnetz angeschlossen werden soll. Zur Zeit wird fast eine Stunde für die Anreise von Leipzig aus benötigt. Dies stellt viele Nutzungen zunächst in Frage, weil die Zahl der potentiellen Besucher*innen, z.B. eines Museums, nur sehr klein sein würde und sich deshalb das Vorhaben als wirtschaftlich nicht tragfähig erweisen könnte. Ein vergleichbares Problem betraf wahrscheinlich auch das von David Boder betreute Psychologiemuseum, das von 1938 bis 1957 in Chicago bestand und in dem vor allem psychophysiologische Instrumente und Apparate ausgestellt wurden.
In Würzburg existiert seit einigen Jahren das großzügig ausgestattete Adolph-Würth-Zentrum für Geschichte der Psychologie. Deshalb wäre mit Blick auf die Einrichtung einer Dauerausstellung in Großbothen darauf zu achten, dass keine Konkurrenzsituation entsteht. Gegen eine Erinnerungs- und Gedenkstätte spricht, dass das Institut für Psychologie der Universität Leipzig bereits das „Wilhelm-Wundt-Zimmer“ besitzt, in dem Exponate aus Wundts Büro und Labor ausgestellt sind (das Wundtzimmer soll auf Wunsch der Universität in Leipzig auch nach Fertigstellung des Wundthauses Grimma im Institut für Psychologie verbleiben).
In der DISKUSSION, die sich an die Vorträge anschloss, wurden nicht nur die bereits genannten, sondern auch weitere Nutzungsmöglichkeiten erörtert:
(d) Lisa Malich schlug vor, nach dem Vorbild des Museums of Illusions in Ljubljana im Erdgeschoss zum einen ein spielerisches Arrangement für Kinder zum Thema optische Täuschungen, das als eine Art „Werbung“ für das Fach Psychologie dienen könnte und zum anderen einen Familientreffpunkt für Bewohner der Region zu schaffen.
(e) Eine andere Überlegung betraf die Anbindung des Wundthauses an den benachbarten Wilhelm-Ostwald-Park (die u.a. in technischer und wirtschaftlicher Hinsicht sinnvoll wäre).
(f) Ein Betrieb als Außenstelle des Würthzentrums Würzburgs.
(g) Ein Tagungs- und Gästehaus der Uni Leipzig.
(h) Ein Tagungshaus für eine psychologische Fachgruppe. Nach dem Vorbild des Freudmuseums wäre dann die Einrichtung eines Vortragsraums nötig.
In der Diskussion wurde deutlich, dass die Idee eines Stipendiatenzimmers besonders opportun erscheint. Dabei ist vor allem an internationale Bezüge zu denken. So könnte z.B. Graduierten aus dem Wundtzentrum Brasilien, aus dem Zentrum für Psychologiegeschichte im kanadischen York oder aus China ein adäquater Forschungsaufenthalt ermöglicht werden. Mit Blick auf diese Nutzung wäre das Haus auch mit einer kleinen Bibliothek und mit einem Archiv auszustatten. In diesem Kontext ließe sich auch Anna Freuds Idee eines Spendenaufrufs für Bücher wieder aufgreifen. Die Initiative, im Wundthaus eine Wohn- und Arbeitsstätte für Stipendiaten einzurichten, müsste einerseits mit der Universität Leipzig und andererseits mit Institutionen erörtert werden, die für eine Kostenübernahme in Betracht kämen.
Falls es einen Kompromiss mit der Universität Leipzig gäbe (u.U. auf der Basis einer Befragung unter Mitgliedern der DGfPs), wo ein Wundtzimmer ‚hingehöre‘, sollte zumindest ein Raum der Person Wilhelm Wundt gewidmet werden. Die/der kostenfrei im Haus wohnende Stipendiat/i/en muss sich im Gegenzug um die Bibliothek kümmern und an ein bis zwei Tagen pro Woche interessierte Besucher empfangen.
Die Tragfähigkeit der Idee, im entlegenen Grimma-Großbothen „nur“ ein Wundt-Gedenkzimmer oder eine akademische psychologiehistorische Ausstellung einzurichten, bezweifelten alle Teilnehmer*innen (besonders wegen der zu erwartenden geringen Besucherzahlen).
Generell sollte – auch außerhalb der Psychologie – nach Möglichkeiten für weitere finanzielle und ideelle Unterstützung gesucht werden. Es wurde argumentiert: Auch das Freudmuseum in Wien stieße nicht allein bei Psycholog*innen und Ärzt*innen auf Interesse, sondern auch bei Literatur- und Kulturwissenschaftler*innen. Die anwesenden Medizinhistoriker*innen meinten, dass physiologische Fachgesesellschaften (Wundt war ja in der Medizin im Forschungsbereich Physiologie tätig) ebenfalls für eine Beschäftigung mit Wundts Lebenswerk aufgeschlossen seien.
Das Kolloquium schloss mit dem Fazit, dass die Restauration des Wundthauses ein sehr begrüßenswertes Projekt sei. Die Bemühungen für die Leistungen, insbesondere der Eigentümerin, wurden mehrfach hervorgehoben. Dennoch sahen alle Beteiligten die Schwierigkeit, eine sinnvolle (und ökonomisch vertretbare) Nutzung zu entwickeln.
Der vollständige Bericht erscheint in Kürze auf HSozKult.